Montag, 20. Juni 2016

TIEDEMANN Paul – Lieblingszitate zur Religionsfreiheit

Das Buch „Religionsfreiheit - Menschenrecht oder Toleranzgebot?“

von Paul TIEDEMANN

hat mich zum Thema der Religionsfreiheit äußerst fasziniert. Nach seinem Verständnis ist Religion das, was zur Bearbeitung bzw. zur Reaktion auf das Sakrale dient. Das Sakrale wiederum sieht er als alle Dinge im Leben, die für einen Menschen zu überdimensional sind, um sie einfach so im Alltag oder mit Naturwissenschaft zu bearbeiten oder zu lösen. Also alle Dinge, die das Leben emotional überfordern – die Schönen wie die Schlechten. Dazu gehören z.B. das Sterben, Geburt, Schicksale, Krankheiten, Kriege, Katastrophen – ebenso wie wunderschöne Naturphänomene, Feste, Überraschungen, Zufälle, Kinder, das Leben an sich, Sinnsuche etc. Alles also, das für Menschen so besonders, liebenswert, wichtig ist, dass Dinge, wie Rituale, Mythen, gemeinschaftliche Feste, etc. psychisch helfen, diese Dinge zu verarbeiten und für den eigenen Lebenssinn zu verstehen. Tiedemann sieht in der Definition von Religion eigentlich das, was viele Menschen auch eher als Spiritualität benennen würden, weshalb er den Begriff breit setzt.

Fanatismus bzw. Fundamentalismus – also wenn Menschen ihre Religion als das einzig Wahre sehen und andere Religiöse oder Nichtreligiöse aus diesem Grund missachten, missionieren oder gar verfolgen oder gewaltsam angreifen - definiert er nicht als Religion sondern als Zelotismus.


Hier sind meine Lieblingszitate aus diesem Buch:


S. 20: Die erste Erwähnung von Religion als Menschenrecht
findet man in der Antike – ausgerechnet von einem Christen, namens Quintus Septimius Florens Tertullianus, im Brief an den Prokonsul Tertullus Scapula:

„Jedoch, es ist ein Menschenrecht und eine Sache natürlicher Freiheit für jeden, das zu verehren, was er für gut hält, und die Gottesverehrung des einen bringt dem andern weder Schaden noch Nutzen. Nicht einmal Sache der Gottesverehrung ist es, zur Gottesverehrung zu zwingen, da sie von freien Stücken unternommen werden muss und nicht aus Zwang: denn auch Opfer werden nur von einer willigen Gesinnung gefordert. Wenn ihr uns also auch wirklich zum Opfern treiben wollt, so würdet ihr euren Göttern keinen Dienst damit erweisen. Denn von Widerwilligen werden sie wohl keine Opfer verlangen, es sei denn, dass sie händelsüchtig wären; händelsüchtig aber ist Gott nicht.“


S. 51: Wer ist verantwortlich für Religionsfreiheit?
[...] bei der Frage, ob Religionsfreiheit ein Menschenrecht ist, geht es nicht oder zumindest nicht nur darum, sie für uns selbst einzufordern, sondern vor allem darum, ob wir moralisch verpflichtet sind, die Religionsfreiheit der Anderen zu achten. Das gilt insbesondere, wenn es sich bei den anderen um Minderheiten handelt. Denn darin liegt gerade die Pointe der Menschenrechte. Niemand kann erwarten, ernst genommen zu werden, wenn er für sich Religionsfreiheit als Menschenrecht beansprucht, selbst aber nicht bereit ist, die Religionsfreiheit der Anderen als Menschenrecht anzuerkennen.


S. 91: Sinnlose Kritik am Mythos:
[Der Mythos] erhebt nicht den Anspruch eines wissenschaftlichen Geschichtsbuchs. Er hat vielmehr Ähnlichkeiten mit einem Traum. Sie [die Mythen] sind gleichsam kollektive Träume einer (oder mehrerer) Religionsgemeinschaft(en), die deren Mitgliedern bei der seelischen Verarbeitung der Begegnung mit dem Sakralen offenbar große Hilfe leisten. [...] Den Mythos im Lichte der Wissenschaft zu kritisieren ist genauso unsinnig wie unsere Träume im Lichte der empirischen Erfahrung zu kritisieren. Mythen wollen keine Informationen mitteilen. Im Mythos bringt vielmehr der Mensch sich und sein Verhältnis zur Welt zum Ausdruck


S. 121: Theologie ist keine Wissenschaft:
Die Einkleidung des Mythos in eine pseudowissenschaftliche Sprache, wie dies die Theologie unternimmt, ist dem Gegenstand schlicht nicht angemessen und führt zu geistiger Verwirrung. Das Ergebnis dieser Verwirrung ist, dass solche Theorien einerseits nichts dazu beitragen, die profane Welt effizienter zu verstehen und zu gestalten, aber auch nichts dazu, einen angemessenen Zugang zur sakralen Welt zu bekommen. Denn mit dem Anschein der Wissenschaftlichkeit verbindet sich automatisch die Erwartung, der Bereich des Sakralen sei ebenso wie der des Profanen etwas, das man mit den Mitteln von Wissenschaft und Technik unter Kontrolle bringen könne. Es gibt deshalb auch keinen vernünftigen Grund, Theologie als wissenschaftliche Disziplin anzuerkennen und ihr eigens Lehrstühle und Fakultäten an den öffentlichen Hochschulen einzurichten.


S. 91: Mythos und Logos benötigt man beide:
So richtig und so wichtig es auch ist, über den Unterschied zwischen diesen beiden Weltsichten [Wissenschaft und Religion] aufzuklären und empirisch-analytisches Denken zu lehren, wo es noch nicht hinreichend entwickelt ist, so unvernünftig wäre es doch zu glauben, dass es nur ein Entweder – Oder zwischen Mythos und Logos geben könnte und es darum gehen müsse, Ersteren zu Gunsten des Letzteren zum Verschwinden zu bringen.


S. 113: Die Dummheit antidemokratischer Herrschaft:
Je weniger offen eine Gesellschaft ist, umso geringer wird ihr kollektives Differenzierungsniveau sein. Mit anderen Worten: Je mehr Kommunikationsverbote in einer Gesellschaft herrschen, umso größer ist das Maß der Dummheit. Dummheit aber kann man allenfalls tolerieren, nicht aber akzeptieren.


S. 131: Ein Gutpunkt für nicht-monotheistische Religionen:
Die historische Erfahrung lehrt, dass die größte Gefahr für die Religionsfreiheit nicht von säkularen Kräften ausgeht, sondern von religiösen. Es sind die Religionen selbst, die andere Religionen erbittert bekämpfen. [...] Die Rivalität und Unduldsamkeit der Religionen untereinander beruht auf der Überzeugung, dass man unter den religiösen Praktiken und den diese begründenden handlungsleitenden Theorien zwischen [...] wahren und falschen unterscheiden kann.

Das Bedürfnis, diese Unterscheidung zu treffen, war der Religion allerdings ursprünglich fremd. Es ist auch logisch nicht haltbar. Denn da das Sakrale gerade dasjenige ist, welches sich jedweder Kontrolle und Analyse entzieht, kann es keinen sachbezogenen, also am Wesen des Sakralen orientierten Maßstab geben, um die Angemessenheit oder Unangemessenheit einer religiösen Theorie oder Praxis beurteilen zu können. In der Antike war es deshalb üblich, fremde Mythen und Praktiken, sobald man mit ihnen in Berührung kam, in die eigene religiöse Theorie und Praxis zu integrieren. [...]

[Die Römer] haben nämlich die fremden Religionen nicht nur widerstrebend ertragen und hingenommen, sondern sie haben sie als ebenbürtige religiöse Ausdrucksformen betrachtet, die keine geringere Legitimität besaßen als die traditionelle römische Religion.

Dieselbe Situation kann man beispielsweise in China oder Japan beobachten. Buddhismus, Daoismus, Shintoismus und Konfuzianismus werden nicht als konkurrierende Unternehmungen aufgefasst, zwischen denen man sich nach dem Kriterium der Wahrheit oder Richtigkeit entscheiden muss, sondern als verschiedene religiöse Ausdrucksformen, zwischen denen man je nach der Lebenssituation, in der man gerade nach religiösem Ausdruck sucht, sich die passende heraussucht.


S. 134: Warum der Supermarkt der Religionen vor allem Vorteile hat:
Im „globalen Dorf“ üben religiöse Traditionen unterschiedlicher Provenienz zunehmend mehr Einfluss aufeinander aus. Die Vielfalt der äußeren Formen weckt die Aufmerksamkeit für die inneren spirituellen Quellen. [...]

Partikulare Mythen, Dogmen, Riten und Traditionen der je eigenen Religion verlieren ihre fundamentale Bedeutung. Sie werden zunehmend mehr als bloß verschiedene kulturelle Ausprägungen ein und desselben Anliegens wahrgenommen. Wer aber für sich einen solchen Standpunkt der universalen Religiosität erreicht hat, der gehört eben darum im eigentlichen Sinne nicht mehr dieser oder jener partikularen Religion an. Er begegnet den jeweils anderen partikularen religiösen Traditionen nicht wie etwas, für oder gegen das man sich unter dem Aspekt von Wahrheit und Irrtum entscheiden müsste. Vom Standpunkt der einen universalen Religion sind die vielen partikularen Ausprägungen nichts weiter als verschiedene spirituelle Sprachen, in denen sich prinzipiell dieselben Gedanken und Gefühle ausdrücken lassen und die man daher ineinander übersetzen kann. [...] Und so wie man eine Fremdsprache erlernen und gelegentlich benutzen kann, kann man auch fremde religiöse Traditionen erlernen und sich ihrer bei Gelegenheit bedienen.

Mitunter werden solche Übernahmen fremder religiöser Ausdrucksformen und die freie Kombination verschiedener Traditionen von strengen Vertretern traditioneller Konfessionen etwas herablassend als Patchwork-Religion, „Supermarkt der Weltanschauungen“ [...] bezeichnet und als etwas Seichtes, Unentschiedenes, Flatterhaftes betrachtet. Aber tatsächlich handelt es sich dabei ebenso wie bei der immer weiter verbreiteten Mehrsprachigkeit unter den Menschen um eine Folge der Globalisierung und des Zusammenrückens der verschiedenen Kulturen, die zu einer gegenseitigen Befruchtung und Bereicherung führen.


S. 157: Warum auch Atheismus als Religion bezeichnet werden kann:
Wenn also die theistische Option als durchaus anerkennenswertes Instrument im Arsenal der Reaktionsweisen auf die Anmutungen des Sakralen verstanden werden kann, so ist es doch die atheistische Option nicht minder. Sie beruht auf dem heroischen Willen, dem Sakralen standzuhalten, ohne dabei die Standards des Verstandes aufzugeben.

Dem atheistischen Ansatz geht es um eine Position, bei der der Mensch seine Identität als Verstandeswesen unabhängig davon wahren kann, ob er seine Aufmerksamkeit der profanen Welt zuwendet oder ob er sie der sakralen Welt zuwendet. Letztlich ist es eine Frage der Wahl, ob man diese Identität aufrechterhalten will oder nicht. Unser Verstand zwingt uns nicht dazu, uns seiner auch zu bedienen, wenn es um die sakrale Welt geht. Denn der Verstand ist eine Fähigkeit, die ursprünglich und eigentlich dem Umgang mit der profanen Welt dient und nicht dem Umgang mit der sakralen. In diesem Sinne könnte man vielleicht sogar sagen, dass der Atheismus im Kern einem ästhetischen Bedürfnis geschuldet ist und keineswegs einem epistemischen.

Der Unterschied zwischen Theismus und Atheismus spielt deshalb im Hinblick auf die Religionsfreiheit als Menschenrecht keine Rolle. Es handelt sich um zwei verschiedene, aber grundsätzlich gleichwertige Weisen des Umgangs mit dem Sakralen. Für die Frage nach dem menschenrechtlichen Schutzbedürfnis kommt es allein darauf an, dass es in beiden Fällen um mögliche Antwortreaktionen des Menschen auf die Herausforderungen des Sakralen geht.

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